Abschied von Johannes

Am Krankenbett seines Sohns Johannes lebten Werner Endrich und seine Familie anderthalb Jahre zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Es ist Frühjahr. Johannes, 16 1/2 Jahre alt, ist häufig müde, ein hohles Husten ist irgendwie auffällig. Wir gehen zum Hausarzt. Da er keine Ursache findet, wird ein Termin beim Radiologen vereinbart. Eine Woche später werden die Bilder gemacht. Danach fahre ich Johannes zur Schule. Und hole die Bilder später ab; ein Gespräch mit einem Arzt gibt es nicht, nur die Bemerkung: „Da ist was, bringen Sie die Bilder zum Hausarzt“. Meine Frau arbeitet in der Uniklinik. Ich gehe mit den Bildern zu ihr, sie zeigt sie ihrem Chef, der zeigt sie dem Radiologen. Dessen Verdacht: „Lymphdrüsenkrebs!“ Die Ärzte wollen Johannes sehen; also hole ich ihn wieder aus der Schule ab.

Was soll ich ihm jetzt sagen?

Was soll ich ihm jetzt sagen? Er wird den Grund wissen wollen… Ich entscheide mich, ihm zu erzählen, was ich von den Ärzten gehört habe. Nach der Untersuchung bleibt der Verdacht. Die Geschwulst muss punktiert werden. Dann heißt es warten, bis aus dem Labor die Werte kommen. Es sind Tage zwischen Hoffen und Bangen, zwischen nicht wahrhaben wollen und der Realität ins Auge sehen. Endlich ist das Ergebnis da: keine bösartigen Zellen gefunden. Innerlich mache ich schon eine Flasche Sekt auf. Doch dann höre ich: „Wir hatten zu wenig Gewebe. Um sicher zu gehen, müssen wir durch eine Operation mehr gewinnen.“ Für den Schnellschnitt brauchen wir einen Termin in der Thoraxchirurgie. Dann wieder Warten. Und nach dem Schnellschnitt: Warten. Wir fühlen uns verdammt zur Tatenlosigkeit …

Dann der Befund: Es gibt bösartige Zellen. Auf die Frage nach den Heilungschancen erhalte ich keine Antwort, es heißt nur: „Die Krankheit ist gut behandelbar.“ Was „behandelbar“ und „heilbar“ unterscheidet, werde ich später erfahren.

Zunächst steht eine Chemotheraphie an. Davor steht die Aufklärung. Viele Fragen bedrängen uns. Wird Johannes die Therapie halbwegs gut vertragen. Spricht sie an? Bleiben die Haare?

Aber was soll’s – haben wir eine Alternative? Also unterschreibe ich.

Gott sei Dank, Johannes verträgt die Chemotherapien relativ gut. Nach der zweiten möchte ich gerne wissen, ob sie denn wirke. Man könne noch nichts sagen, erfahre ich. Wieder muss ich Geduld haben.

Der erste Befund nach den Chemotherapien gibt ein klein wenig Ruhe: Die Chemo spricht gut an. Der Tumor wird kleiner.

Nun folgt der zweite Teil der Behandlung: die Bestrahlung. Wir bekommen Anweisungen zur Hautpflege und müssen wieder unterschreiben, dass wir über die Risiken aufgeklärt wurden. Wir tun’s in der Hoffnung, das Richtige zu tun, und im Vertrauen auf die Ärzte.

Zum Abschluss gibt es drei weitere Chemotherapien. Doch diese Behandlungen verträgt Johannes viel schlechter. Und was für ihn besonders schlimm ist: Er verliert die Haare. Jetzt ist seine Krankheit nach außen für jeden offensichtlich. Bisher war sein Wahlspruch: „Du musst die Krankheit einfach ignorieren.“ Jetzt geht er halt mit einem Strickmützchen zur Schule, das ihm seine Schwester gemacht hat.

Dann die Abschlussuntersuchung. Angst vor dem Befund, Hoffen auf die erlösende Nachricht, die dann tatsächlich kommt. Jetzt ist wirklich Zeit zum Feiern. Vereinzelt gibt es sogar Stimmen: „Ich hab’s ja gewusst, so schlimm ist das nicht.“

Einen guten Monat lang dürfen wir uns freuen. Dann bekommt Johannes wieder Fieber, dazu eine Atemnot. Auf dem Weg ins Krankenhaus nagt unausgesprochen die Frage: Gibt es doch noch bösartige Zellen?

Das Ergebnis des Röntgenbilds: Es ist was am Zwerchfell, das müssen wir untersuchen. Punktieren, Warten, ungeduldige Nachfragen im Labor, dann das Ergebnis: kein Befund. Wir kennen das nervige Spiel ja schon, deshalb freut sich keiner so richtig über die Nachricht. Weiter geht’s wie beim ersten Mal zum Schnellschnitt. Nur, das ist jetzt klar: Wenn es ein Rückfall ist, dann stehen die Chancen sehr schlecht. Die Gewebeproben werden untersucht, und am Abend kommt der Arzt mit der Nachricht. Wörtlich: „Jetzt hat es dich erwischt.“

Es ist, als zöge mir jemand den Boden unter den Füßen weg. Aber jetzt muss ich doch stark sein für Sohn, Frau, Tochter! Einer muss doch auf Hoffnung machen… Und ich bin auch nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben.

Im Konflikt mit mir selbst

Die Therapien bringen nur kurzfristig Linderung. Diese Hilflosigkeit zu erleben ist schlimm. Jetzt begreife ich, was es heißt, dass Sterben immer konflikthaft ist. Auch wenn es kein Streit zwischen den Beteiligten ist – der Konflikt liegt in mir selbst. Ich will nicht, dass du stirbst! Aber ich sehe, dass du nicht mehr kannst. Aber ich will es nicht wahrhaben. Also greifen wir zu allen Strohhalmen. Da gibt es einen Gesundbeter. Und die alternative Medizin… Es geht um die Hoffnung. Um ihr Ausdruck zu verleihen, kaufen wir sogar noch ein Auto für Johannes; es ist ja nicht mehr lange bis zu seinem 18. Geburtstag. In unserer Not hoffen wir auch auf ein Wunder. Wie oft zünde ich eine Kerze in der Kirche an oder blicke verzweifelt zum Himmel hinauf: „Mach’s doch, bitte!“

Die Leute fragen mich zuallererst nach Johannes’ Zustand. Ich gebe höflich Auskunft, aber ich muss aufpassen, was ich sage. Es geht ihm heute etwas besser? Dann nehmen sie nicht wahr, wie schwer krank unser Sohn ist, dann ist alles nicht so schlimm. Es geht ihm schlecht, vielleicht stirbt er bald? Dann kann es mir ergehen wie den Überbringern einer schlechten Nachricht im alten Griechenland: Ich werde bestraft, gemieden. Viele bleiben weg, oft mit fadenscheinigen Ausreden.

Keine Kraft mehr zum Schreien

„Wir können nichts mehr für ihn tun.“ Irgendwie habe ich auf diesen Satz des Arztes schon länger gewartet. Wir konnten ihnen ansehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind. Aber sie wollten es nicht sagen, und ich wollte es ja eigentlich auch nicht hören.

Erwartet war der Satz also; aber als er fällt, überrascht er mich trotzdem. Auf dem Gang, inmitten der ganzen Visitenmannschaft, erfahren wir es: „Sie können ihn mit nach Hause nehmen. Wenn die Schmerzen zu groß werden, können sie gerne wiederkommen.“

Wie gern würde ich schreien, toben. Meiner Enttäuschung und Wut, meiner Trauer, meinem Entsetzen, oder welche Gefühle es sonst waren, Luft machen. Aber dazu habe ich keine Kraft mehr.

Wieder zu Hause ist sein größter Wunsch: „Nie mehr ins Krankenhaus!“ Er hat Schmerzen. Der Tumor wächst. Das Schmerzmittel, das wir mitbekommen haben, scheint nicht mehr auszureichen. Der Pfarrer aus der Nachbarpfarrei kennt zum Glück eine alte Ärztin, die früher in der Mission gearbeitet hat. Sie weiß über die Behandlung von Schmerzen mehr als die Ärzte, die wir bisher hatten. Sie dosiert das Medikament besser. Sie rät uns auch, zur Vorsorge Morphin verschreiben zu lassen.

Nur wenige haben mich in diesen Monaten einmal gefragt: Wie geht es dir? Dabei tat es gut, auch beachtet zu werden – beachtet zu werden als Angehöriger, der körperlich ausgelaugt ist, hin und her gerissen zwischen „Du musst loslassen!“ und „Ich will, ich kann nicht loslassen.“ An einem Samstag erlebt Johannes in den frühen Morgenstunden im Bett einen Erstickungsanfall. Von diesem Augenblick an weigert er sich, sich ins Bett zu legen. Ein Fernsehsessel, ein Pflegebett wäre jetzt hilfreich… Eine Sozialstation können wir nicht erreichen. Da erinnert sich meine Frau an einen Zeitungsartikel über einen Hospizverein, den sie aufgehoben hat. Schon zwei Stunden später ist eine Hospizhelferin bei uns und organisiert für Montag ein Pflegebett.

Was noch viel wichtiger ist: Mit ihr kommt ein Ruhepol in die Familie. Sie gibt Sicherheit und strahlt Ruhe aus. Ihre Hilfe bevormundet nicht, gibt Impulse, ist einfach da. Diese Hilfe kann ich gut annehmen.

Ganz wichtig wird diese Begleitung in der Todesstunde und in der Zeit des Abschiednehmens. Wir hätten allein sicher nicht so reagiert, hätten uns nicht die Zeit genommen, wären hektischer gewesen. Ich höre noch heute ihren Satz: „Jetzt haben wir alle Zeit der Welt.“

Bei der Beerdigung sagte ein naher Verwandter zu mir: „Jetzt habt ihr ja das Schlimmste hinter euch.“ Irrtum: Mit dem Tod, mit dem Verlust leben zu lernen, ist ein schwerer, langwieriger Weg. Auch dabei hat uns das Hospiz begleitet, angenommen und zur Trauer ermutigt. Obwohl wir lange nicht normal tickten.

Werner Endrich